Samstag, 12. März 2011

nippon.

in meiner jugend gab es dieses buch, «die letzten kinder von schewenborn.» ich hab es verschlungen, damals, und geweint, als die kleine schwester vom vater umgebracht wird, als die mutter starb, überhaupt, alle diese kinder und erwachsenen, die sterben müssen wegen dieser atomaren katastrophe, von der man eigentlich nie richtig herausfindet, was genau es wirklich war. für meinen kleinen geist damals war es jedenfalls die hölle, und man betete selbstverständlich, dass man solches nie erleben würde.

dann passierte tschernobyl und kurz darauf schweizerhalle und die katastrophe war irgendwie auch bei uns. wie ich schon im letzten post und schon viel früher und andernorts erwähnte: was mir blieb, war dieser geschmack der kondensmilch, die ich natürlich nie mehr trinken konnte seither. mir wird schon fast übel, wenn ich die nur von weitem sehe. und, wie auch schon erwähnt: früchte und gemüse aus bio und region waren für eine ganze weile nicht auf dem speiseplan.

die nächste katastrophe, an die ich mich erinnere, so richtig bewusst, war der flugzeugabsturz der md-11 bei halifax. nicht dass es dazwischen nicht auch anderes gab, es hat sich mir nur nicht so vieles eingebrannt. es gab ein paar ganz schlimme attentate in israel, von denen eines kurz vor meinem mehrmonatigen aufenthalt dort geschah; überhaupt, in israel war die gefahr ein dauernder begleiter, selbst beim relativ kurzen weg an den strand.

dann begann ich zu arbeiten, und katastrophen, die kleinen und die grossen, gehörten einfach dazu. saxetbach, 9/11, überlingen, irak-krieg, erfurt, der lehrermörder, grounding, was weiss ich: es war einfach mein job, dabei zu bleiben, wenn nötig, rund um die uhr. ich habe es gern gemacht, es war ja auch mein job. es war auch interessant, das grounding zum beispiel, wie sich das entwickelt hat von null auf 100 in wenigen stunden.

beim tsunami in asien war ich auf hawaii. es ging eine weile, bis ich realisierte, was genau da passiert war. nach zwei tagen cnn und im meer treibenden leichen hatte ich genug. ich war in den ferien und genoss die freiheit, mich davon abzuwenden. nicht dass mir das alles egal gewesen wäre, aber ich musste nicht mehr jedes detail mit erleben.

später hatte ich andere jobs, die nicht mehr pausenlose informationsinhalation erforderten. die welt, in der sich die für mich relevanten dramen abspielen, wurde kleiner, und ich begann, den ersten bund der zeitung zu ignorieren und die tagesschau sowie die andere sendung auszulassen. das ist bis heute so geblieben.

es tönt nach ignoranz, jetzt, und bis zu einem teil ist es das auch. aber wir haben schon oft gespendet; man kann mir also zumindest nicht egoismus vorwerfen. aber: auch jetzt muss ich nicht mehr jedes detail wissen. was mich am allermeisten nervt, und das war schon früher so, ist, dass jeder was anderes erzählt.

ich persönlich verstehe nix von chemie und physik, und wem soll ich glauben? dem, der mir sagt, es sei alles nur halb so schlimm oder dem, der sagt, es ist der super-gau? und was alles hat das für mein leben für auswirkungen? kondensmilch? gemüse aus der dose? jetzt ein lager anlegen, mit zeug, das noch nicht verstrahlt ist? was bringt es mir? sind die mengen hier überhaupt gesundheitsrelevant?

natürlich, mir tun die armen menschen da drüben leid. aber damit reicht es mir auch schon an infos. einmal lesen, dass ein knabe von den fluten mitgerissen wurde und eine alte frau von einem hausdach erschlagen, das reicht. ich muss es auch nicht zusätzlich auf englisch und französisch und italienisch lesen. es tut mir weh, so was zu lesen, und darum ist mein devise: manchal ist nichtwissen auch ok.

und, seien wir ehrlich: spätestens in ein paar tagen ist die unterwäsche der nachbarn und das schlechte benehmen ihrer kinder wieder interessanter. wir nerven uns wieder über die kleinen katastrophen im alltag; dass der zug nicht pünktlich fährt und der vor uns noch bei orange aufs gas geht, nachdem er davor geschlichen ist.

oder besser: hoffen wir, dass es so sein wird. wird es anders sein, können wir es eh nicht beeinflussen, und die situation ist eine komplett andere. bis dahin zieh ich mich von den nachrichten zurück.
Frau Bruellen - 13. Mär, 07:59

Was mich immer wieder fasziniert:

dass Schweizer das Grounding in einem Atemzug mit 9/11 nennen. Da bist du nicht die einzige.

rage - 13. Mär, 10:10

tja. so sind wir schweizer. wenn unser nationalstolz untergeht, bleibt uns das in erinnerung. und: aus schweizer sicht war es wohl die grössere katastrophe als 9/11, was unser land betrifft, weil 9/11 nicht in der schweiz statt fand. ich hab das wirklich als einen der interessantesten tage meiner karriere in erinnerung - weil sich das alles so langsam anbahnte und schlussendlich für schweizer verhältnisse tatsächlich in einer katastrophe mündete.

aber eigentlich kann man diese beiden dinge gar nicht vergleichen, es war beides schrecklich, jedes auf seine art. 9/11 war unvermittelt, damit rechnete keiner. beim grounding war dieser weg am 2. oktober von anfang an vorgezeichnet und die einzelnen schritte waren im prinzp absehbar. und das schreckliche am grounding war ja nicht mal unbedingt, dass die swissair nicht mehr fliegen konnte, sondern all die gestrandeten, und was nachher folgte: die jobs weg, pensionen weg, alles.

im übrigen ist das nur eine unvollständige liste der ereignisse in den letzten jahren, es brannte ja der gotthard noch aus, es gab ein paar lawinen mit schrecklichen folgen – das alles waren verglichen mit anderen katastrophen peanuts, aber das wäre dann ja eine philosophische frage: wann darf man ein ereignis als katastrophe bezeichnen?

und, ganz ehrlich: ich glaube nicht, dass man jetzt wegen japan all die atomkraftwerke abstellt. traurig, aber wahr. beziehungsweise: es gäbe 1000000 gründe gegen ein akw. und japan ist einer davon. und er wird das fass nicht zum überlaufen bringen.
seenia - 14. Mär, 09:21

@Frau Bruellen:
was genau fasziniert sie daran?
brigitte - 13. Mär, 22:27

Wir haben damals in der Schule 'Die letzten Kinder von Schewenborn" gelesen, und mich hat in meiner Jugend - nebst "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo' - wohl kein Buch so sehr beeindruckt. Und so sehr beängstigt. Mir ist erst jetzt wieder eingefallen, dass ich in meiner Kindheit/Jugend vor nichts so sehr Angst hatte wie vor einem atomaren Krieg. Und dann kam das Ende des kalten Krieges, und so vieles wurde vergessen.

Diese Flut an Informationen und Sensations-Bildstrecken ist mir auch zuviel. Ich habe dieses Wochenende etwas gemacht, was es seit Jahren nicht mehr gab: Ich guckte (fast) ausschliesslich die Tagesschau, um mich zu informieren.

Frau Bruellen - 16. Mär, 06:44

@seenia

was mich daran fasziniert? Dass der (zugegeben recht spektakuläre) Pleitegang einer Firma, der durch unternehmerisches Fehlverhalten und persönliche Gier von Landsleuten verursacht wurde, in einem Atemzug mit Naturkatastrophen und Terroranschlägen mit zigtausend Toten genannt wird und damit auf eine Ebene gestellt wird.
Ich persönlich finde das fast eine Verhöhnung der Opfer von 9/11 zB.
Und kann mir nicht vorstellen, dass eine kollektive Trauer Deutschland ergreifen würde, wenn zB die Lufthansa pleite gehen würde

rage - 16. Mär, 09:38

niemand vergleicht naturkatastrophen und terroranschläge mit einem pleitegang, es war nur eine aufzählung der dinge, die in jenem herbst passiert sind. (btw: es gab ja auch noch das attentat von zug. das war auch ganz schlimm.) und in ihrer kumulation kann sich der untergang der swissair sehr wohl in die gleiche reihe stellen.

alles in allem ist meiner meinung nach der untergang der swissair für die schweiz das grössere ereignis gewesen als 9/11, weil 9/11 nicht in unserem land statt fand, sondern weit weg. es ist leicht, im nachhinein die schuldigen zu finden, und ja, man darf sich fragen, warum es so weit kommen konnte. aber die swissair ist nicht die lufthansa, das war wirklich der nationalstolz, das hat man ja an den reaktionen der mitarbeiter und auch anderen, unbeteiligten gesehen. es ist doch nicht lustig, in einem unternehmen zu arbeiten, alles zu geben und dann steht man, ohne dass man es selbst verschuldet hat, plötzlich ohne arbeit und ohne pension da? und die, die darunter gelitten haben, waren nicht die, die durch unternehmerisches fehlverhalten glänzten, sondern diejenigen, die die harte arbeit gemacht haben. und das ist, wenn sie mich fragen, wirklich eine katastrophe.

an dem tag, an dem das attentat von zug passierte, bekamen 20! kollegen von mir ihre kündigung. zuerst die kündigung, dann ein attentat, das so in der schweiz noch nie vorgekommen ist. die hatten keine zeit, sich um ihren eigenen schmerz zu kümmern, weil es zynisch erschien im gegensatz zu denen, die in der ausübung ihrer bürgerpflicht von einem irren erschossen wurden. dabei, auch hier, war die kündigung das grössere persönliche drama mit weitreichenderen folgen für die betroffenen als das attentat in zug.

nur die anzahl der toten ist meines erachtens auch kein grund, ein ereignis höher einzustufen. würde man das, was in japan passierte, als massstab nehmen, dann muss man sagen: peanuts gegen den tsunami von 2004. und japan ist ein hochtechnologisiertes land, selbst schuld, wenn die ihre akws am meer bauen. was war hier der grund? ist es billiger, am meer zu bauen? misswirtschaft?

aber das sagen wir alles nicht, weil es nicht darum geht. es geht darum, dass zigtausende alles verloren haben und die gefahr besteht, verstrahlt zu werden. das ist tragisch. sein leben lang zu arbeiten und am schluss unverschuldet nix mehr zu haben, ist genau so tragisch, sorry. dass die schweiz keine eigenen luftlinie mehr hat, ist schade, aber zu verkraften.

rage.

reloaded.

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